Bewertungsreserve – Streit und wenig hilfreiche Berichterstattung
Die aktuell hohe Bewertungsreserve der deutschen Lebensversicherer sind gerade ein beliebtes Thema in den Medien. Immer wieder wird scheinbar nicht beachtet, dass der Verbraucher in erster Linie Kunde einer Vericherung ist und kein Lebensversicherungsexperte.
Branchenkenner, Experten und jeder der sich dafür hält, geben ihre Meinung zum Besten. Im Ergebnis ist mehr Verwirrung als Aufklärung zu finden. Dieses ist ebenso kontraproduktiv – und schadet dem Ansehen der Finanzbranche – wie der „Paste&Copy-Journalismus“, der die vermeintlichen Schreckensmeldungen zum Anlass nimmt, um auf wachsende Auflage und steigende Artikelverkäufe zu hoffen. Journalismus sollte aufklären und informieren.
Ein typisches Beispiel, dass genau das Gegenteil bewirken dürfte finden wir in einem Artikel der „Welt“: „Neukunden sind bei Lebensversicherungen gekniffen“. Der Autor des Artikels der Welt vermischt eifrig ein paar Studien und Zitate miteinander und fertig ist der Artikel. Schön, dass er selbst im Artikel von „Verwirrung“ spricht.
Versuchen wir einmal eine sachliche Betrachtung der Fakten
Exkurs – Bewertungsreserve:
Eine Bewertungsreserve entsteht bei Lebensversicherern durch die gesetzliche Verpflichtung, die Anschaffungskosten für Wertpapiere nach dem Niederstwertprinzip zu beziffern. Die Differenz zum aktuellen Marktwert stellt dann eine stille Reserve dar, wenn sie positiv ist. Ist die Differenz negativ, handelt es sich um eine stille Last. Die Summe aus stiller Reserve und stiller Last wird dann als Bewertungsreserve bezeichnet. Nach § 153 Abs. 3 Satz 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) sind Versicherungsnehmer an diesen Bewertungsreserven zu beteiligen. Dabei stehen den Versicherungsnehmern bei Vertragsbeendigung nach aktueller Gesetzeslage 50% der dann vorhandenen positiven Bewertungsreserven zu. Durch die Anwendung des § 53 c VVG könnte die Zuteilung einer Bewertungsreserve für den Fall ausgesetzt werden, dass den Lebensversicherern die notwenige Eigenkapitalausstattung fehlt, um seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (AZ 1 BvR 80/95 vom 26.07.05) hat 2005 bereits klargestellt, dass es einen Rechtsanspruch der Versicherungsnehmer an den hälftigen Bewertungsreserven geben muss. Anderenfalls würden eigentumsrechtliche Ansprüche verletzt. Dieses Urteil war ursächlich für die Änderung des VVG im Jahr 2008.
Fakt 1 – Steigende Bewertungsreserve durch sinkende Zinsen
Hauptsächlich entstehen Bewertungsreserven bei deutschen Lebensversicherern durch Kapitalanlagen in Anleihen und sonstigen festverzinslichen Wertpapieren (Rentenpapiere).
Durch sinkenden Zinsen in den letzten Jahren, sind früher gekaufte Rentenpapiere exorbitant im Kurs gestiegen (Zusammenhänge siehe: „Rentenfonds in Gefahr“) Die Bewertungsreserven aller Versicherer sollen sich zu Jahresbeginn auf ca. € 75 Milliarden belaufen haben.
Der GDV (Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft e.V.) als Dachverband der Lebensversicherer plädiert für eine Gesetzesänderung, um die Bewertungsreserven nicht mehr (in voller Höhe) den Versicherungsnehmern zukommen zu lassen. Stattdessen soll damit das Eigenkapital der Versicherer erhöht werden. Unterstützung für den Zugriff auf das umstrittene Kapital erhält der GDV von der BaFin und dem Finanzministerium. Ein Zufall, dass jede dieser Institutionen dem Lager der Versicherungsunternehmen zuzurechnen sind? Eine Gesetzesänderung durch den Bundestag – unter Federführung des Bundesfinanzministers – war bereits in 2012 erlassen worden und sollte im Dezember 2012 wirksam werden. Durch ein Veto im Bundesrat wischte der Vermittlungsausschutz im Februar dieses Jahres die Gesetzesänderung (erst einmal) vom Tisch.
Fakt 2 – Sinkende Zinsen gefährden die Garantieleistungen
Versicherer dürfen bis zu 30% der Kapitalanlagen z.B. in Aktien investieren. Tatsächlich werden von deutschen Lebensversicherern durchschnittlich weniger als 5% in chancenreichere und reditestärkere Anlagen (z.B. Aktien) investiert. Somit liegen bis zu 95% der Kapitalanlagen in Zinspapieren. Zinsen haben die Eigenart, zu steigen und zu fallen. Damit ergeben sich stets stille Reserven oder stille Lasten. Positive Salden in Form von Bewertungsreserven schwanken somit jährlich und sind keine echten Gewinne der Versicherer. Das VVG verlangt eine jährliche Feststellung und eine hälftige Ausschüttung der Bewertungsreserven an Verträge, welche im Bewertungsjahr durch Ablauf oder Kündigung fällig werden.
Fakt 3 – Unterschiedliche Interessen
Es wird darüber gestritten, ob es „fair“ sei, hohe Bewertungsreserven in guten Jahren auszuschütten und Kunden zu „schaden“, deren Verträge in Zeiten auslaufen, in denen die Reserven – z.B. durch steigende Zinsen – reduziert sind. Düstere Warnungen werden ausgesprochen, dass ein Festhalten an der momentanen Rechtslage (hälftige Ausschüttung der Bewertungsreserven) Lebensversicherer an den Rand des „Ruins“ führen könnte, weil die Versicherer mit den Kapitalanlagen nicht mal mehr den Höchstrechnungszins (aktuell 1,75%) erwirtschaften können. Auch sollen Kunden benachteiligt sein, deren Vertragsablauf in eine Phase fällt, in der die Bewertungsreserven nicht mehr in der aktuellen Höhe vorhanden sind.
Anmerkung Finanzblog:
Die letzte Behauptung sollte einmal anhand von tatsächlichen Verträgen überprüft werden. Es sollte für einen Versicherer ein leichtes sein, die Ablaufleistung zweier identischer Verträge zu berechnen, von dem einer heute fällig wird und einer in z.B. 10 Jahren bei einer Bewertungsreserve, die um 50% geringer ausfällt.
In den Medien werden Zahlen veröffentlicht, die der Höhe nach drastisch voneinander abweichen. Auch ist die Quelle des Zahlenmaterials meist unbekannt.
Erst wenn sich tatsächlich herausstellt, dass es drastische Unterschiede in den Ablaufleistungen durch unterschiedlich hohen Gutschriften der jeweils festgestellten Bewertungsreserven gibt – und damit gravierende Benachteiligungen einzelner Versicherungsnehmer durch verschiedener Ablauftermine existieren – sollte über eine Lösung nachgedacht werden. Befürworter einer Gesetzesänderung argumentieren mit dem Begriff „Solidargemeinschaft“ im Versichertenkollektiv. Wenn es eine Solidargemeinschaft geben soll, dann sollten Unterschiede in den Gutschriften von wenigen Basispunkten zumutbar sein.
Gegner der Gesetzesänderung plädieren für die Beibehaltung des § 153 VVG, da die Bewertungsreserve zu 50% den Versicherten zustehen und ein Teil der Überschüsse darstellen, die dem Vorsorgevertrag eine Rendite schenken.
Das eigentliche Problem – Systemfehler
Nach Ansicht des Autors haben beide Seiten Recht. Auf der einen Seite gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf einen Teil der Bewertungsreserve. Auf der anderen Seite ist ein Prinzip einer „Versicherung“ die Existenz einer „Solidargemeinschaft“. Diese Gemeinschaft sollte gleichermaßen fair an allen Überschüssen partizipieren. Systembedingte leichte Abweichungen für einzelne Vertragsinhaber sind dabei akzeptabel.
Alle bisher publizierten „Lösungsversuche“ scheitern – nach Meinung des Autors – am „System Lebensversicherung“. Wie auch immer argumentiert wird, werden mindestens 3 Systemfehler deutlich:
Fehler im System „Lebensversicherung“
1. Fehler: Behauptete Anlagerestriktionen
Bewertungsreserven entstehen – wie oben beschrieben – hauptsächlich durch das Investment in Rentenwerte. Wenn 95% in Renten investiert wird, müssen – bei gleichen Voraussetzungen – mehr Bewertungsreserven entstehen, als wenn nur 70% des Anlagekapitals in Renten investiert wird. Deutsche Lebensversicherer nutzen den Spielraum der möglichen Anlageprodukte (z.B. Aktien) nicht aus und verstärken dadurch das Problem. Nebeneffekt: geringe Zinseinnahmen in Zeiten niedriger Marktzinsen. Aktuell belaufen sich die Renditen neu gekaufter Renten unterhalb des Höchstrechnungszinses und – noch schlimmer – unterhalb der Inflationsrate. Die gern zitierten Anlagerestriktionen sind demnach nur vorgeschoben.
Warum rentieren angelsächsische Policen dauerhaft besser, als deutsche Policen ? In angelsächsischen Policen ist der chancenreiche Aktienanteil in der Kapitalanlage deutlich größer als in deutschen Produkten; selbst in Krisenzeiten.
2. Fehler : Verteilung aller Überschüsse
Die Lebensversicherer werben regelmäßig mit „Gesamtverzinsungen“ und „laufenden Verzinsungen“. Sie nutzen dabei alle rechtlichen Mittel, um in „Beauty-Contests“, Ratings und Rankings möglichst weit „oben“ zu stehen. Nahezu alle Versicherer verwenden die gleichen „Verteilungsschlüssel“. Nur so ist es möglich, in den „Bestenlisten“ möglichst weit nach vorn zu kommen. Das gelingt nur, wenn der Anteil von Gewinnzuteilungen je Vertrag im Jahr der Deklaration möglichst hoch ist.
Wie würde das Ranking eines Versicherers ausfallen, wenn dieser einen nennenswerten Anteil nicht in die laufende Verzinsung legt, sondern in die Rückstellungen für den Schlussüberschussanteil ? Da die „laufende Verzinsung“ geringer ausfällt, wird das Ranking im Vergleich zu den Mitbewerbern schlechter.
Wie sieht es aber aus Kundensicht aus ? Wer seinen Vertrag bis zum Ablauf beibehält hätte mindestens die gleiche Ablaufrendite, wie bei der Gutschrift durch die laufende Verzinsung. Lediglich die Kunden, die vor dem Vertragsende Ihren Vertrag kündigen, erhielten eine geringere Auszahlung, da der Schlussüberschussanteil nicht gutgeschrieben würde. Die gesamte Branche möchte aber gern, dass alle Kunden Ihre Verträge bis zum Ende bedienen. Hier wäre ein zusätzliches Argument, den Anteil an „Durchhaltern“ zu erhöhen. Die bereits erwähnten angelsächsischen Policen weisen meist einen höheren Schlussüberschussanteil auf und eine höhere Quote bei den „Durchhaltern“.
Der gesetzliche Rahmen für die Verwendung und Verteilung von Kapitalerträgen für den Versicherungskunden lässt eine solche Variante ausdrücklich zu. Nur wird diese Chance aus den oben genannten Gründen von deutschen Versicherern kaum genutzt.
3. Fehler: Eigenkapitalverpflichtung der Lebensversicherer
Die von der EU verabschiedete – bislang aber aufgeschobene – Regelung „Solvency II“ wird die Lebensversicherer verpflichten, Ihre Eigenkapitalausstattung weiter zu stärken. Ein notwendiger und wichtiger Schritt, um die Garantien der Lebensversicherungsverträge erfüllen zu können. Eine solche Stärkung des Eigenkapitals der Versicherer sollte jedoch weder zu Lasten der Versicherten gehen, noch von diesen direkt oder indirekt „finanziert“ werden. Mit dem aktuellen Versuch die Bewertungsreserven nicht mehr wie bisher hälftig zu verteilen, sondern dem Versicherer zukommen zu lassen (um seine Garantieverpflichtungen erfüllen zu können) wäre es aber der Kunde, der die Eigenkapitalausstattung des Versicherers mitfinanziert. Das käme einer gesetzlich legitimierten Enteignung gleich. Das oben bezeichnete Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat genau dieses zu unterbinden gefordert.
Hier muss der Versicherer verpflichtet werden, aus eigenen Mitteln das Eigenkapital in geforderter Mindesthöhe vorzuhalten. Sollte ein Unternehmen dazu nicht in der Lage sein, spricht man gewöhnlich von „Überschuldung“, was – ebenso gewöhnlich – zum Konkurs führt. Wir leben doch in einer gut funktionierenden (sozialen) Marktwirtschaft. Oder hat sich das inzwischen geändert ?
Konzertierte Aktion wünschenswert
Im Sinne der Branche – Versicherer, Vermittler und Kunden – wäre zu wünschen, dass einzelne Interessenvertreter und politisch involvierte Personen das Thema nicht weiter missbrauchen, um sich persönlich in den Mittelpunkt zu stellen. Zu durchsichtig sind die Intentionen. Und zu schnell werden fehlende Sachkenntnisse offensichtlich.
Die Verantwortlichen aller Lager sollten sich in einer konzertierten Aktion ein den runden Tisch setzen und die Fakten und realen Gegebenheiten analysieren und diskutieren. Im Mittelpunkt sollte dabei ausschließlich das Kundeninteresse stehen. Schließlich ist es sein Geld, mit dem er für seine Vorsorge investiert. Und es ist sein Geld, mit dem er hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Versicherungsindustrie finanziert.
Lösungsvorschlag
Es sollte unmissverständlich klar sein, dass Bewertungsreserven durch die Beiträge der Versicherungskunden entstehen. Damit sollte ebenso klar sein, dass nur der Kunde einen Anspruch an diesen Bewertungsreserven haben darf. Die Regelung, nach der 50% der Reserven dem Versicherer zustehen, ist zu hinterfragen. Warum soll der Versicherer an den Erträgen der Kunden beteiligt werden ? Es sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Bewertungsreserven vom Verlauf der Wertentwicklung der Kapitalanlagen abhängig – und damit schwankend – sind.
Eine Lösung des Problems könnte darin liegen, die Bewertungsreserven – wie bisher – zu 50% einem ausscheidenden Vertrag gutzuschreiben. Die anderen 50% der Bewertungsreserve könnte dem variablen Verlauf der Bewertungshöhe unterliegen; als „Bewertungspuffer“ quasi.
Im Übrigen handeln Versicherer Ihr Kapitalanlageportfolio regelmäßig. Der Verkauf von Anlagen ist Tagesgeschäft, da laufend z.B. Ablaufleistungen an Versicherungskunden erbracht werden. Damit sollte ein fadenscheiniges Argument widerlegt sein, Versicherer hätten durch die hälftige Gutschrift der Bewertungsreserven ein Wiederanlageproblem bei Verkauf von Anleihen zu diesem Zweck.
Aktuelle Regelungen sind ausreichend
Der Autor sieht im Weiteren keinerlei Anlass, etwas an der aktuellen Rechtslage hinsichtlich Verwendung und Verteilung von Kapitalerträgen und sonstigen Gewinnen zu ändern. Es sollte einzig das vorhandene System in seiner Bandbreite ausgenutzt werden.
Allerdings sollte man ein Instrument spielen können, wenn man es schon benutzt.